Deutschland gilt weltweit als das Land der Ordnung – ein Ruf, den es sich durch stabile Staatsführung, Sicherheitsgarantien und gesellschaftliche Verlässlichkeit erarbeitet hat. Der Begriff „Ordnung“ selbst hat Eingang in die internationale Politikwissenschaft gefunden – als Chiffre für ein funktionierendes Gemeinwesen. Doch seit einigen Jahren zeigt sich ein anderes Bild: Drei Faktoren untergraben zunehmend das deutsche Verständnis von Ordnung – wirtschaftliche Unsicherheit, politische Instabilität und sicherheitspolitische Gefährdung. Dass diese drei Bereiche miteinander verknüpft sind und sich gegenseitig verstärken, ist offensichtlich.
In diesem Beitrag soll insbesondere das zunehmend prekäre Verhältnis zwischen politischer Instabilität und innerer Sicherheit in den Fokus gerückt werden. Zwei Entwicklungen stehen dabei exemplarisch im Vordergrund: Erstens der Aufstieg der extremen Rechten, allen voran der AfD, die bei den letzten Wahlen zur zweitstärksten Kraft wurde und laut aktuellen Umfragen sogar CDU/CSU überholen könnte. Zweitens die sicherheitspolitischen Auswirkungen Ukraine-Kriegs, der durch die unklare außenpolitische Linie der USA unter Donald Trump zusätzlich verschärft wird.
Ein Aspekt gerät dabei allerdings oft aus dem Blick: Die sicherheitspolitische Bedrohung, die von der innenpolitischen Destabilisierung durch den Rechtsruck selbst ausgeht. Allein in den letzten zwölf Monaten wurden in Deutschland sieben terroristische Angriffe unterschiedlicher Art und ideologischer Motivation verübt. Am Mittwoch wurde beispielsweise eine rechtsterroristische Gruppe mit dem Namen „Letzte Verteidigungswelle“ zerschlagen – ihre Mitglieder waren überwiegend unter 18 Jahre alt und planten Anschläge auf Flüchtlingsunterkünfte und linke Einrichtungen.
Diese Entwicklungen machen deutlich: Es ist an der Zeit, die Verbindung zwischen politischer Instabilität und innerer Sicherheit neu zu denken – und die Gefahren, die vom rechten Rand für das gesellschaftliche Gefüge und das Fundament des deutschen „Ordnungsmodells“ ausgehen, ernst zu nehmen. Was passiert, wenn sich diese Trends mit den internationalen Unsicherheiten rund um den Ukrainekrieg und einer möglichen Wiederwahl Trumps überlagern? Droht Deutschland eine sicherheitspolitische und gesellschaftliche Erosion größeren Ausmaßes?
Gewaltmonopol und Staatsautorität im Wandel: Eine weberianische Perspektive auf die Sicherheitskrise
Die heute gängige Definition des Nationalstaates, der mit dem Westfälischen Frieden von 1648 seinen institutionellen Ausdruck fand, wurde Jahrhunderte später maßgeblich von Max Weber geprägt. Laut Weber ist der moderne Staat dadurch charakterisiert, dass er innerhalb seines Territoriums das Monopol legitimer physischer Gewalt innehat. Das westfälische System beruhte auf zwei zentralen Prinzipien: Im Inneren verfügt ein souveräner Akteur – der Staat – über das Gewaltmonopol, nach außen hin begegnet er anderen Staaten auf Augenhöhe. Jede äußere Einmischung gilt somit als Verletzung staatlicher Souveränität.
Seit der Mitte des 20. Jahrhunderts jedoch hat sich dieses Modell zunehmend als krisenanfällig erwiesen. Mit der technologischen Entwicklung moderner Waffensysteme – etwa dem Sturmgewehr AK-47, Überwachungstechnologien oder Drohnen – ist Gewalt nicht länger ein exklusives Herrschaftsmittel des Staates. Diese Mittel sind heute für nichtstaatliche Akteure – sei es Warlords, Terrorgruppen oder Piraten – erschwinglich, zugänglich und teils sogar selbst herstellbar geworden. Das Gewaltmonopol beginnt in sogenannten „weak states“ oder gar „failed states“ zu erodieren.
Diese Entwicklung folgt einer gefährlichen Dynamik: Je schwächer ein Staat wird, desto mehr Raum gewinnen nichtstaatliche Gewaltakteure. Und je stärker diese Akteure agieren, desto weiter unterminieren sie die ohnehin fragil gewordene staatliche Autorität – ein Teufelskreis, der den Staatszerfall beschleunigt.
Deutschland, lange Zeit Paradebeispiel eines stabilen, rechtsstaatlichen und effektiven Staates, verkörperte das Gegenmodell zu diesen Entwicklungen. Doch auch hier mehren sich mittlerweile die Anzeichen für eine schleichende Aushöhlung staatlicher Handlungsfähigkeit. Auch wenn es voreilig wäre, Deutschland als „failed state“ zu bezeichnen, so lässt sich nicht ignorieren, dass politische Instabilität und der Aufstieg des Rechtsextremismus erste Risse in der Gewaltordnung sichtbar machen.
Wirtschaftliche Unsicherheit, politische Destabilisierung und ein zunehmendes Sicherheitsdefizit wirken als wechselseitige Verstärker einer systemischen Erosion.
Zwischen äußerer Bedrohung und innerer Erosion: Deutschlands sicherheitspolitische Blindstellen
Auf den ersten Blick mögen Aussagen über eine schleichende Teilung des staatlichen Gewaltmonopols in Deutschland übertrieben oder alarmistisch wirken. Doch die in diesem Beitrag aufgelisteten terroristischen Anschläge des vergangenen Jahres deuten darauf hin, dass eine gefährliche Schwelle zunehmend überschritten wird. Deutschland scheint das Ausmaß der aktuellen Krisenkonstellation – bestehend aus wirtschaftlicher Unsicherheit, politischer Instabilität und sicherheitspolitischen Herausforderungen im Zuge des Ukraine-Kriegs – in seiner mittel- bis langfristigen Tragweite noch nicht vollständig erkannt zu haben.
Ein Ausgangspunkt für diese sicherheitspolitische Analyse ist der Krieg in der Ukraine. In der deutschen Öffentlichkeit wird dieser Konflikt vor allem als militärische Bedrohung durch Russland wahrgenommen: Sollte Russland die Ukraine besetzen, könnte sich die Gefahr bis an die Grenzen Polens und letztlich Deutschlands ausweiten – ein realer und umfassend zu diskutierender Aspekt.
Was jedoch in Politik und Medien unterrepräsentiert bleibt, ist die Frage, wie Russland – als historisch einflussreiche Macht in Ostdeutschland – heute subtil auf das gesellschaftliche und politische Klima in Deutschland einwirken könnte. Wie reagiert Russland auf Deutschlands entschlossene Unterstützung für die Ukraine? Welche asymmetrischen Maßnahmen könnten als Antwort erfolgen?
Eine provokante, aber notwendige Frage lautet: Gibt es zwischen der Eskalation des Ukraine-Kriegs und dem gleichzeitigen Anstieg rechtsextremer Tendenzen sowie terroristischer Anschläge in Deutschland einen verdeckten Zusammenhang? Wird diese Möglichkeit ausreichend geprüft?
Deutschland richtet seinen sicherheitspolitischen Fokus primär nach außen – auf die Bedrohung durch Russland an den Grenzen. Doch es vernachlässigt dabei die Frage, welche Risiken sich bereits im Innern des Landes entfalten könnten.
Ein zweiter, eng damit verknüpfter Aspekt ist die politische Instabilität, die sich vor allem im Aufstieg der AfD manifestiert. Bei den letzten Wahlen wurde die Partei zweitstärkste Kraft, in aktuellen Umfragen liegt sie zum Teil sogar vor der Union. Zwei Faktoren verdienen in dieser Debatte mehr Aufmerksamkeit: Erstens die mögliche Rolle externer Einflüsse – durch Russland oder künftig durch Politiker wie Donald Trump oder J.D. Vance in den USA. Ist der Aufstieg der AfD allein durch innenpolitische Faktoren wie Migration, Pandemie-Folgen oder Wirtschaftskrise erklärbar – oder sind wir Zeugen einer gezielten politischen Einflussnahme von außen? Wahrscheinlich ist es ein Zusammenspiel beider Komponenten. Doch Deutschland diskutiert die Möglichkeit eines politischen Projekts zu wenig – und wenn, dann fokussiert es sich fast ausschließlich auf Russland.
Zweitens wird die sicherheitspolitische Dimension des Rechtsextremismus unterschätzt. Zwar wurden viele der jüngsten Anschläge von Geflüchteten oder gegen Geflüchtete verübt – doch die jüngsten Entwicklungen zeigen, dass rechtsextreme Ideologien zunehmend auch unter deutschen Jugendlichen Verbreitung finden. Die zerschlagene Terrorzelle „Letzte Verteidigungswelle“, bestehend aus radikalisierten Jugendlichen, ist ein alarmierendes Signal. Ebenso besorgniserregend ist der nachgewiesene Einfluss rechtsextremer Strömungen innerhalb von Polizei und Bundeswehr – eine Erkenntnis, die mittlerweile auch in Berichten des Bundesinnenministeriums dokumentiert ist.
All das zeigt: Der Rechtsextremismus bedroht nicht nur die deutsche Demokratie, sondern stellt auch eine ernsthafte Gefahr für das gesellschaftliche Zusammenleben und das staatliche Ordnungsmodell dar.
Ein notwendiger Perspektivwechsel: Ordnung bewahren durch strategisches Umdenken
Deutschland muss beginnen, die Bedrohungen, die es bisher primär als externe Gefahren wahrgenommen hat, in Zusammenhang mit den internen politischen Verwerfungen zu analysieren – als sich gegenseitig verstärkende Krisenphänomene. Nur wenn die innen- und außenpolitischen Spannungen nicht isoliert, sondern als Teil eines umfassenden Krisenzusammenhangs verstanden werden, kann eine effektive Reaktion formuliert werden.
Anstatt sich in parteipolitischen Auseinandersetzungen zu verlieren, ist es an der Zeit, sich auf die Lösung jener komplexen Herausforderungen zu konzentrieren, die die gesellschaftliche Ordnung, die staatliche Handlungsfähigkeit und die innere Sicherheit zunehmend unter Druck setzen. Die aktuelle Entwicklung ist nicht nur eine politische Krise – sie bedroht fundamentale Elemente der deutschen Staatsraison: Ordnung, Stabilität und das Gewaltmonopol.
Nur ein grundlegender Perspektivwechsel – weg von symptomatischer Reaktion, hin zu strategischem Denken – kann die Voraussetzung dafür schaffen, diese existenziellen Probleme realistisch zu erfassen und nachhaltige Lösungen zu ermöglichen.