Schätzungsweise 11,4 Millionen Kinder haben zwischen 1951 und 1990 meist wochenlange Aufenthalte in Erholungsheimen, Heilstätten oder Kinderkurheimen verbracht. Das geht aus dem ersten bundesweiten Forschungsbericht zu dem Thema der Humboldt-Universität (HU) Berlin hervor, der am Montag in der Bundeshauptstadt veröffentlicht wurde.
Die Untersuchung führte laut HU erhebliche strukturelle Missstände zutage, unter denen zahlreiche Kurkinder zu leiden hatten. So waren die räumlichen und hygienischen Verhältnisse oft mangelhaft und die Verpflegung schlecht. Zeitzeuginnen und Zeitzeugen berichteten davon, dass sie kontrolliert, eingeschüchtert und teils gedemütigt wurden - ebenso wie von physischer, psychischer und sexualisierter Gewalt.
Den Forschenden zufolge fehlte es in den Einrichtungen oft an angemessenen pädagogischen Konzepten und pädagogischem Fachpersonal. Außerdem griffen die Aufsichtsbehörden trotz entsprechender Hinweise und Beschwerden nicht ein.
Im gesamten Bundesgebiet wurden laut HU 2000 Einrichtungen identifiziert, die meist sechswöchige Heil- und Erziehungskuren für die Kinder und Jugendlichen anboten. Im Mittelpunkt der Untersuchung standen die Caritas, die Diakonie und das Deutsche Rote Kreuz als größte Heimträger.
Ein weiterer Schwerpunkt lag auf der Deutschen Rentenversicherung und ihren Vorgängern, die nicht nur eigene Einrichtungen unterhielten, sondern vor allem durch die Finanzierung eines Großteils der Aufenthalte ebenfalls an den Kuren beteiligt waren.
Laut HU wurde mit der Studie das Kinderkurwesen in Deutschland erstmals grundlegend und umfassend als Gesamtphänomen untersucht. Dafür wurden historische Dokumente aus rund 60 Archiven analysiert und 35 Interviews mit Zeitzeuginnen und Zeitzeugen geführt. Begleitet wurde die Forschung durch einen Projektbeirat, dem auch Vertreterinnen und Vertreter von Betroffeneninitiativen angehörten.
„Auch wenn Kinder und Jugendliche positiv oder neutral von ihren Kuren berichten, war die Realität in den Heimen häufig eine andere“, erklärte der Leiter des Forschungsprojekts, Alexander Nützenadel. Über Jahrzehnte habe sich das Kinderkurwesen als sehr beständiges Massenphänomen über alle sozialen Schichten hinweg erwiesen. Erst ab Mitte der 70er Jahre hätten sozialpolitische und -rechtliche Veränderungen sowie soziostrukturelle Wandlungsprozesse das Ende der Kinderkuren eingeläutet.
„In der Untersuchung der Humboldt-Universität zu Berlin wird das zahlenmäßige Ausmaß des Kinderverschickungswesens sehr deutlich“, teilte die Initiative Verschickungskinder mit. „Forschungsergebnisse wie diese sind unverzichtbar, um den Wahrheitsgehalt und die Relevanz der Erlebnisberichte der vielen Betroffenen zu unterstreichen.“