Am Morgen scheiterte er noch – am Nachmittag wurde er gewählt. Friedrich Merz ist nun offiziell Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland, doch seine Kanzlerschaft beginnt mit einem politischen Beben. In der ersten Abstimmungsrunde im Bundestag erhielt die von CDU/CSU und SPD gebildete Koalition nur 310 Stimmen – sechs weniger als die benötigte absolute Mehrheit. Die Regierung verfehlte die Vertrauensfrage, ganz Deutschland und Europa hielten den Atem an. Noch nie seit 1945 war ein Kanzlerkandidat im ersten Anlauf gescheitert, der eine große Koalition hinter sich wusste. Erst im zweiten Wahlgang – nach hektischen Verhandlungen und Krisensitzungen – gelang es Merz, das Kanzleramt zu sichern.
Doch das Fundament, auf dem seine Kanzlerschaft ruht, ist denkbar brüchig: 307 Abgeordnete verweigerten ihm im zweiten Wahlgang das Vertrauen, obwohl die Koalition theoretisch über 328 Sitze verfügt. Die Diskrepanz ist alarmierend. Die neue Regierung startet nicht mit einem Vertrauensvorschuss, sondern mit einem Misstrauensvotum im Gewand der Legalität. Die Oppositionsführerin: die AfD, erstmals in ihrer Geschichte stärkste Oppositionskraft im Bundestag. Allein diese Konstellation spricht Bände über die fragile politische Lage Deutschlands.
Ein Land vor politisch schwierigen Zeiten
Deutschland steht vor politisch außerordentlich herausfordernden Zeiten. Es ist nicht nur die ungewöhnlich schwache Startposition der neuen Regierung, die Sorgen bereitet. Vielmehr offenbart die Bundestagswahl 2025 und die darauffolgende Regierungsbildung eine tiefgreifende Führungskrise in der deutschen Politik. Die Personalie Merz mag eine pragmatische Entscheidung gewesen sein – aus parteistrategischer Sicht und in Ermangelung überzeugender Alternativen. Doch sie ist keine Entscheidung aus Überzeugung.
Der neue Kanzler genießt weder in seiner Partei noch in der Bevölkerung flächendeckende Unterstützung. Die Koalition wirkt von Beginn an wie ein Zweckbündnis ohne gemeinsame Vision. In Bereichen wie Verteidigung, Digitalisierung, Bildung oder Energiewende werden mutige Entscheidungen und umfangreiche Investitionen gebraucht. Doch mit einer derart wackeligen parlamentarischen Basis ist kaum Spielraum für Reformen oder ambitionierte Projekte.
Ein Koalitionskonstrukt ohne Stabilität
Die Koalition zwischen CDU/CSU und SPD, die in früheren Zeiten als Bollwerk gegen politische Extreme fungierte, wirkt heute kraftlos und überholt. Statt Gemeinsamkeit herrscht Misstrauen, statt Aufbruchstimmung lähmender Status quo. Die internen Spannungen zwischen dem konservativen Flügel der CDU, den wirtschaftsnahen Sozialdemokraten und den parteiinternen Kritikergruppen sind nicht zu übersehen.
Gerade in Zeiten zunehmender geopolitischer Instabilität ist das fatal. Deutschland muss investieren – in Infrastruktur, Digitalisierung, Bildung, Verteidigung. Doch mit einem Koalitionspartner, der bereits zu Beginn das Vertrauen entzieht, wird jede Kreditaufnahme, jede große Reform zur Zerreißprobe. Auch außenpolitisch ist ein Kanzler ohne festen Rückhalt im Parlament ein Problem: Wer außen Stärke zeigen will, muss innen fest verankert sein.
Ein hausgemachtes Dilemma
Seit dem Abgang von Angela Merkel 2021 hat Deutschland keine stabile Führungsfigur mehr hervorgebracht. Olaf Scholz konnte das Vakuum nicht füllen – seine blasse Amtsführung wurde oft kritisiert. Nun folgt Friedrich Merz, ein Politiker, der lange am Rande der Macht stand, und dessen Rückkehr eher an einen Kompromiss als an einen Neuanfang erinnert.
Währenddessen erleben wir weltweit die Rückkehr starker Führungspersönlichkeiten. Wladimir Putin, Donald Trump, Giorgia Meloni oder Xi Jinping – ob man ihre Politik gutheißt oder nicht – sie alle verfügen über eine klare Linie, eine Strategie. In Zeiten globaler Unsicherheit scheinen viele Staaten auf charismatische und entschlossene Führung zu setzen. Deutschland hingegen scheint unfähig, eine solche Persönlichkeit hervorzubringen. Das hat Folgen – nicht nur innenpolitisch, sondern auch für Europas Zukunft.
Europas Lokomotive ohne Lokführer?
Deutschland galt jahrzehntelang als Lokomotive der EU. Doch wie soll ein Land diese Rolle weiterhin glaubhaft ausfüllen, wenn es sich selbst in Lähmung verliert? Die EU steht vor historischen Herausforderungen: Der Krieg in der Ukraine, die Spannungen mit China, die Transformation zur Klimaneutralität, Migration und der wachsende Einfluss autoritärer Kräfte an ihren Grenzen. All das verlangt Führung – und zwar nicht nur technische, sondern politische Führung.
Doch wie will Deutschland ein Europa führen, wenn es nicht einmal eine Regierung führen kann? Wenn der Bundeskanzler mit wackeliger Mehrheit ins Amt gewählt wird, seine Koalition ihn kaum stützt und grundlegende Entscheidungen vertagt oder blockiert werden – dann schrumpft der Gestaltungsspielraum dramatisch. Und mit ihm die Bedeutung Deutschlands in Europa.
Deutschland braucht in dieser kritischen Phase seiner Geschichte mehr als nur politische Arithmetik. Es braucht Vision, Mut und Vertrauen.