Die diesjährige Ausgabe des Eurovision Song Contest, ausgetragen in der Schweiz, wurde nicht nur durch musikalische Darbietungen, sondern auch durch politische Kontroversen geprägt. Im Zentrum der Debatte steht der österreichische Gewinner Johannes „JJ“ Pietsch. Neben seiner von der Jury gelobten Performance geriet Pietsch insbesondere durch politische Aussagen in den Fokus internationaler Medien.
In einem Interview mit den spanischen Zeitungen El País und El Diario äußerte Pietsch scharfe Kritik an der Teilnahme Israels am Wettbewerb: „Es ist sehr enttäuschend, dass Israel noch am Wettbewerb teilnimmt. Ich würde mir wünschen, dass der Eurovision Song Contest nächstes Jahr in Wien stattfindet, ohne Israel.“ Zudem verwies er auf einen wahrgenommenen Doppelstandard im Umgang mit politischen Konflikten, indem er anmerkte, dass Russland ausgeschlossen wurde, während Israel weiterhin teilnehmen dürfe.
Diese Aussagen stießen auf scharfe Reaktionen – insbesondere aus Deutschland und Österreich. Der deutsche Medienanwalt Ralf Höcker forderte via X (ehemals Twitter) gar eine nachträgliche Disqualifikation Pietschs und sprach ihm in diesem Zusammenhang Antisemitismus zu. Der österreichische Staatssekretär Alexander Pröll (ÖVP) wiederum bezeichnete Pietschs Gleichsetzung des israelischen und russischen Vorgehens als „Geschichtsfälschung“ und sprach sich entschieden gegen einen Ausschluss Israels vom ESC aus.
Pietsch reagierte auf die teils heftige Kritik mit einer Relativierung seiner Aussagen. Gegenüber der Austria Presse Agentur erklärte er, es tue ihm leid, falls seine Worte missverständlich gewesen seien. Er betonte zugleich, jede Form von Gewalt gegen Zivilisten – gleich ob israelische oder palästinensische – abzulehnen.
Die Debatte wirft zentrale Fragen auf: Wie weit reicht das Recht auf freie Meinungsäußerung im Kulturbereich, insbesondere im internationalen Rahmen eines unpolitischen Musikwettbewerbs? Und: Wann überschreiten politische Stellungnahmen von Künstlern eine Grenze, die den Vorwurf des Antisemitismus oder der politischen Naivität rechtfertigen?
Festzuhalten ist: Die Kritik Pietschs erfolgte in einem politischen Spannungsfeld, das sich zunehmend auch in europäischen Gesellschaften spiegelt. Die israelische Militäroffensive in Gaza und das Vorgehen im Westjordanland haben – vor allem seit dem 7. Oktober 2023 – europaweit Proteste, aber auch diplomatische Reaktionen hervorgerufen. Spanien etwa, vertreten durch Ministerpräsident Pedro Sánchez, stellte offen die Teilnahme Israels am ESC in Frage und warf der Europäischen Rundfunkunion (EBU) Doppelmoral vor.
Zwischen Pop und Politik: Der Eurovision Song Contest im Spiegel der Geschichte
War der Eurovision Song Contest (ESC) früher wirklich unpolitisch und qualitativ hochwertiger als heute? Ein nostalgischer Blick mag diesen Eindruck vermitteln – doch eine genauere Betrachtung zeigt, dass der ESC seit jeher von politischen Strömungen, geopolitischen Loyalitäten und kontroversen Entscheidungen geprägt war.
In der Erinnerung vieler gelten Künstler wie Udo Jürgens (Sieger 1966 mit Merci, Chérie) oder ABBA (1974 mit Waterloo) als Höhepunkte der ESC-Geschichte. Ihre Erfolge stehen sinnbildlich für eine Zeit, in der musikalische Qualität und internationale Popularität stärker gewürdigt wurden – zumindest aus heutiger Perspektive. Doch auch in diesen Jahrzehnten war der Wettbewerb nicht frei von politischen Einflüssen. Der Vorwurf der Ergebnisverzerrung durch strategisches Abstimmungsverhalten befreundeter Staaten begleitet den ESC seit Langem und wird bis heute immer wieder laut.
Die jüngste Ausgabe des Wettbewerbs, die 2025 stattfand, hat diese Problematik erneut in den Vordergrund gerückt. So wird etwa argumentiert, dass nicht allein musikalische Kriterien, sondern geopolitische Sympathien und mediale Deutungsmuster das Abstimmungsverhalten beeinflussen. Wäre die Entscheidung allein der öffentlichen Meinung überlassen gewesen, hätte möglicherweise die israelische Teilnehmerin den ersten Platz belegt – trotz massiver internationaler Kritik am militärischen Vorgehen Israels in Gaza und dem Westjordanland.
Diese Kritik entzündet sich vor allem an der Diskrepanz zwischen medialer Darstellung und realen Opferzahlen. Während viele westliche Leitmedien Israel als Opfer eines „Verteidigungskriegs“ darstellen, bleibt der Hinweis auf das Ausmaß der humanitären Katastrophe oftmals unterbelichtet: Laut internationalen Organisationen wurden seit dem 7. Oktober 2023 über 50.000 Menschen bei israelischen Angriffen getötet, mehr als 100.000 verletzt – darunter in großer Zahl Frauen und Kinder. Diese humanitäre Dimension wird in vielen Berichten marginalisiert oder durch eine einseitige Täter-Opfer-Narration überlagert.
Künstlerische Meinungsfreiheit unter Druck
Die aktuelle Debatte um den österreichischen ESC-Gewinner Johannes „JJ“ Pietsch wirft ein grelles Licht auf eine zentrale Frage unserer Zeit: Wo endet die künstlerische Freiheit, wenn politische Konflikte den öffentlichen Diskurs dominieren? Und in welchem Maße dürfen – oder müssen – Künstler ihre Stimme erheben, wenn humanitäre Katastrophen den Rahmen westlicher Werte herausfordern?
Vor wenigen Tagen berichteten internationale Medien über einen Vorfall, bei dem ausländische Diplomaten in den Gazastreifen reisten und dabei in israelisches Feuer gerieten – laut israelischen Angaben handelte es sich lediglich um Warnschüsse. Solche Ereignisse hinterlassen Spuren in der öffentlichen Wahrnehmung und könnten mittelfristig zur Neujustierung bisheriger Meinungsbilder führen. In einer Zeit, in der zivile Opferzahlen in Gaza dramatisch steigen und die internationale Kritik an der Verhältnismäßigkeit israelischer Militäraktionen zunimmt, wächst der Druck auf Medienschaffende, Kulturschaffende und Sportler, Stellung zu beziehen.
Gerade Künstlerinnen und Künstler nehmen in demokratischen Gesellschaften eine bedeutende Rolle ein – nicht nur als Unterhaltende, sondern auch als moralische Seismographen. Ihre Äußerungen fließen in die Meinungsbildung ein und tragen zur pluralistischen Debatte bei. Die Vorstellung, Künstler sollten sich zu politischem Geschehen nicht äußern, widerspricht den Grundwerten freier Gesellschaften. Insbesondere dann nicht, wenn sie – wie JJ Pietsch – eine menschenrechtliche Perspektive einnehmen und auf Missstände aufmerksam machen.
Ein bemerkenswerter Beitrag zu dieser Debatte kam am 22. Mai 2025 vom österreichischen Kulturjournalisten Stefan Weiss in der Zeitung Der Standard. Er formulierte: „Nicht JJ, sondern die Politik muss sich kritisch mit Israel auseinandersetzen. Auch ein Land, das angegriffen wird, darf nicht über jede Grenze gehen.“ Zwar grenzt sich Weiss in Teilen von Pietschs Wortwahl ab, erkennt jedoch die Legitimität und Notwendigkeit an, das Handeln Israels kritisch zu reflektieren. Dies markiert – zumindest auf medienethischer Ebene – ein mögliches Umdenken.
Die strukturelle Doppelmoral im europäischen Umgang mit internationalen Konflikten bleibt jedoch offensichtlich. Während Russland infolge des Ukraine-Kriegs vom Eurovision Song Contest ausgeschlossen wurde, durfte Israel trotz massiver Vorwürfe bezüglich Kriegsverbrechen weiterhin teilnehmen. Diese inkonsistente Linie nährt den Vorwurf einer selektiven Moral – oder, wie es polemisch formuliert wurde: „Douze points für europäische Doppelmoral.“
Die Diskussion um JJ Pietsch zeigt, dass es weniger um die Frage geht, ob Künstler politische Meinungen äußern dürfen, sondern vielmehr, welche politischen Positionen innerhalb des kulturellen Diskurses akzeptiert – oder sanktioniert – werden. Der Schutz der Meinungsfreiheit muss gerade dann gewährleistet bleiben, wenn geäußerte Positionen unbequem, provokant oder kontrovers sind. Alles andere würde den Anspruch liberaler Demokratien untergraben.